Das Urwilde in uns – Annie

Der Winter war in Form von einer funkelnden weißen Pracht in Augsburg eingezogen. Nach den feuchtkalten Regenwochen, die die Erde tief gewässert hatten, zog ein Schneeflockengewirbel über Stadt und Land. Die Kinder in ihrer Straße freuten sich über die dicken Schneeflocken, die vom Himmel fielen. Und es ihnen bald möglich machen würde einen Schneemann zu bauen. Als Annie langsam an ihnen vorbeifuhr winkten sie ihr, mit strahlenden Gesichtern, zu.

Annie stieg aus dem Auto aus. Schloß die Türe, zu ihrem kleinen Häuschen auf und warf Jacke und Tasche auf den Boden. Legte sich auf die Couch und seufzte erstmal tief. Morgen würde sie, für eine Woche, in den Urlaub fahren. Sie freute sich so sehr auf ihre Auszeit ! Die Arbeit füllte ihr Leben fast restlos aus. Es mußte sich dringend etwas ändern. Sie fühlte sich zunehmend müde und schlapp. Und kam aus diesem Zustand, schon seit längerer Zeit, nicht heraus. Und genau das war ihren Kolleginnen im Büro aufgefallen und sie hatten sie gedrängt endlich Urlaub zu machen.

Nicki, eine ältere Kollegin, die durch ihre herzliche und mütterliche Art für alle im Team, soetwas wie eine gute Fee geworden war, stellte Annie ihr Wochendhäuschen zur Verfügung. Ein ehemaliges Försterhaus, das am Rande des Auenwaldes lag. Wenn sie morgen dort ankommen würde, war bereits alles für sie vorbereitet. Es wartete ein gut gefüllter Kühlschrank mit Essen auf sie. Und ein Kaminofen, der sie mit kuschliger Wärme umfangen würde.

Am nächsten Morgen brach sie schon früh zu ihrem Urlaubsdomenzil auf. Ein blauer Himmel und Sonnenschein begrüßte sie, als sie ins Auto stieg. Der Weg zum Haus war ihr noch vertraut. Vor ein paar Jahren hatten sie und eine Kollegin Nicki im Wochenendhaus besucht. Knapp eine Stunde später war sie schon am Ziel. Als sie aus dem Auto ausstieg, nahm sie sofort die frische, kalte Luft und den Duft des Waldes wahr. Sie klärten ihre Gedanken und sie atmete tief ein. Sie schaute sich im Wald um und genoß den Anblick der schneebe-deckten Eichen. Ein Lächeln huschte ihr über das Gesicht. Sie wollte nur kurz ihr Gepäck im Haus abstellen und sich dann zu einem Erkundungs-Spaziergang aufmachen.

Plötzlich hörte sie ein Bellen. Sie war sich sicher, daß es aus dem Haus kam. Sie schloß schnell die Türe auf um das Rätsel zu lösen. Kaum als diese offen war, kam ein Golden Retriever aus dem Haus geschoßen. Er drehte gekonnt um und begrüßte sie stürmisch. Das war doch Nickis Hund ! Er folgte ihr schwanzwedelnd ins Haus.

Auf der Theke fand sie eine Nachricht vor, die an sie gerichtet war: „Liebe Annie, ich bin mir sicher du bist überrascht meinen Hund Niko hier vorzufinden. Verzeih mir, daß ich ihn, ohne Rücksprache dir, als Begleiter überlasse. Doch wollte ich dich hier nicht alleine lassen. Vor allem zu diesen Zeiten nicht. Ich bin mir gewiß er tut dir gut und er passt auf dich auf !“ Mit einem Smily endete der Brief. Und Annie mußte lachen. Niko saß geduldig neben ihr und lief zur Türe, als er erkannte, daß sein neues Frauchen gleich wieder mit ihm den Wald hinaus wollte. Sie legte noch ein paar Holzscheite im Ofen nach und dann verließ sie mit Niko das Haus.

Annie freute sich, daß Niko da war. Nicki hatte vollkommen recht, ein Hund an ihrer Seite war genau richtig. Sie verließen das Haus. Niko lief brav an ihrer Seite. Die Schneeflocken nahmen zu und Annie fühlte sich wie in einen Winterzauberwald versetzt. Sie hörte keine Geräusche bis auf ihr Tapsen im Schnee, der jetzt liegen blieb. Schon nach kurzer Zeit merkte sie, wie sie innerlich ruhiger wurde. Ihre kreisenden Gedanken weniger wurden und sie ihre Umgebung bewusster wahrnahm.

Sie verfolgte die Eichhörnchenspuren im Schnee in der Nähe der Bäume. Und auch die von ihnen verursachten fransigen Bissränder, die weiter oben am Baum, an der Rinde, zu finden waren. Sie erinnerte sich an die Zeit als ihr Großvater ihr bei Spaziergängen erzählt hatte, daß die Rehe im Winter gerne die fetthaltigen Eicheln sammeln und fressen würden. Sie hatte schon lange nicht mehr an ihre früh verstorbenen Großeltern gedacht. Als Kind hatte sie diese sehr gerne besucht. Und war oft in den Ferien bei ihnen, auf dem Land, gewesen. Sie liebte es mit ihren Großeltern die Natur zu erkunden und die wachsende Verbundenheit zu den Tieren zu spüren. Hier konnte sie ihr Bedürfnis nach Rennen, Klettern und Erforschen ausleben. Sie war ein richtig wildes Kind gewesen. Wo war diese Wildheit in ihr geblieben ?

Niko lenkte sie ab, da er plötzlich bellte und kurz darauf wieder verstummte. Er spitzte die Ohren und lauschte. Er nahm etwas wahr, was sie nicht hörte. Vielleicht roch er auch etwas ? Er wollte nicht weiterlaufen und Annie bechloß, daß sie zum Haus zurückkehren würden.

Im warmen Haus angekommen zog es sie gleich zum Kaminofen. Niko lag bereits davor und sie kuschelte sich an ihn. Das rotglimmende und knackende Holz zog sie magisch an.

Niko lief in den Küchenbereich und sie bemerkte, daß er Hunger hatte. Sie lief zur Kühlschranktür und wählte ein Currygericht aus. Gleichzeitig mit Niko nahm sie ihre Mahlzeit auf dem Boden sitzend, am Kamin, ein. Sie warf einen Blick nach draußen und stellte erstaunt fest, daß es schon dunkel war. Die Tiere des Waldes erwachten. Sie nahm den Ruf eines Waldkauzes war. Nicht weit von hier schien ein Tier durchs Gebüsch zu schleichen. Ein Knacken von Zweigen begleitete seinen Weg. War es ein Wildschwein ?

Niko legte wieder die Ohren an und lauschte. Doch nach kurzer Zeit entspannte er sich und legte sich hin. Und Annie sich zu ihm. Beide fielen sie in einen kurzen Schlaf. Als sie wieder aufwachte, bereitete sie sich für den Nachtschlaf vor. Niko legte sich auf den Teppich vor dem Bett.

Schnell fiel sie in einen tiefen Schlaf: Sie war im Wald, nur mit einem Schlaf-anzug bekleidet. Doch sie fror nicht, sie schien zu träumen und war sich dessen voll bewußt. Der Vollmond stand hoch oben am Himmel und beschien den Wald silbrig-bläulich. Die ganze Natur schien mit einem hellen Glanz bezogen und strahlte von innen heraus. Sie fühlte sich hier so sehr zu Hause, als wenn der Wald ihre Heimstatt wäre. Hinter sich bewegte sich etwas auf sie zu. Doch sie hatte keine Angst. Sie erschnüffelte die Spur und erkannte sofort: Das war ein Wolf, ihr Wolf ! Er schien zum Sprung anzusetzen und Sekunden später lag sie, mit dem Rücken, auf dem Boden.

Ein ihr das Gesicht abschleckenden Wolf lag auf ihr. Er stubste sie in die Seite und sie stand auf. Und wußte was er wollte. Er rannte ihr voraus und sie setzte ihm sogleich nach. Sie fühlte das Blut in ihren Adern rauschen. Und sie hatte, hier im Traum, Fähigkeiten, von denen sie, in der Alltagswelt, nur davon träumte. Ihr Sinne waren geschärft und eine enorme Kraft, die bisher nur in ihr schlummerte, suchte sich ihren Weg nach außen. Mit langen Sprüngen, beweglich und wendig, war sie nur knapp hinter dem Wolf.

Berauscht von dieser Energie, keuchend und schwitzend, voller Freude dem wilden Weg des Wolfes folgend. Bis er abrupt abbremste und sie unerwartet auf ihn sprang, stolperte und auf den Waldboden fiel. Neben ihm liegend wollte ein Lachen aus ihr herausbrechen, doch es kam ein wildes Heulen aus ihrem Maul. Maul ? Sie schaute auf ihre Arme und Beine, die nicht wie die eines Menschen aussahen, sondern sich in die eines Wolfes verwandelt hatten. Sie schleckte dem Wolf die Schnauze ab. Sie erhoben sich beide und der Wolf drehte sich um und entfernte sich von ihr. Ein Gefühl von Leere und Traurig-keit stieg in ihr auf. Doch kurz bevor sie ins Tagesbewußtsein gezogen wurde, drehte er sich um und war mit einem Sprung bei ihr, in ihr und sie verschmol-zen miteinander.

Als erstes tastete sie ihren Körper ab. Sie war wieder in ihrem Menschen-körper. Sie fühlte sich wieder, aber anders als zuvor. Etwas war in ihr zurückgekehrt, das vor langer Zeit, noch in ihr wohnte. Ein Teil von ihr, ein sehr wichtiger Teil, uralt und zu ihrer Natur gehörte, war wieder da. Sie wußte nicht, wann es ihr verloren ging. Ihr es weggenommen wurde, sie es sich wegnehmen lassen hatte. Ihr es aberzogen wurde. Es war das Wilde in ihr, das Ursprüngliche. Ihr Atem floß tief bis in den Unterbauch. Die Energie, die sie im Traum gespürt hatte, war immer noch da. Sie fühlte sich lebendig un vitalisiert und staunte, wie schnell sich ihr körperlicher Zustand gewandelt hatte. Sie fühlte sich wieder ganz.

Niko stand aufrecht da und schnupperte und schaute sie verwundert an. Er war irritiert und wich ein Stück von ihr zurück. Erst als sie anfing mit ihm zu reden, löste sich das Mißtrauen auf und er wedelte mit seinem Schwanz und kam auf sie zu. Sie streichelte ihn liebevoll.

Sie war dem Wolf im Traum dankbar. Daß er sich, in dieser Form, ihr gezeigt hatte. Wild und kraftvoll. Und zu ihr zurückgekehrt war …

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© Elli (Elke Strohmaier)

Bildquelle: mskathrynne auf pixabay

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