Es war ein sonniger Frühlingstag. Ina lief, fröhlich gestimmt, zur Türe. Sie umarmte ihre Mutter, strich ihr sanft über den runden Bauch, indem ihr neues Geschwisterchen heranwuchs. Ihre Mutter winkte ihr nach. Erst vor ein paar Monaten waren sie, mit Michel, ihrem kleinen Bruder und natürlich ihrem Vater, aufs Land gezogen. Ihr Mutter arbeitete seit dem nicht mehr. Und hatte viel Zeit für sie beide. Und auch Muße für den großen Garten, in dessen Mitte nun ein Baumhaus stand. Das Werk ihres Vaters, der Schreiner war. Der Garten war durchzogen mit Obstbäumen, die im Herbst den Speiseplan mit Äpfel, Quitten und Birnen bereichern würden. Das Haus war von einer Brombeer- und Himbeerhecke umgeben. Ina freute sich schon auf das Ernten der Beeren im Spätsommer.
Ina hüpfte den Weg, der aus dem Dorf herausführte, entlang. Eigentlich war es gar keine richtige Straße. Sondern nur ein schmale Gasse, die sich ein paar Häuser weiter auflöste. Nachdem sie das kleine Dorf verlassen hatte, lief sie über Wiesen, die mit einer bunten Pracht von Blumen durchzogen war. Und sie einluden eine Blume zu pflücken und sich hinters Ohr zu stecken. Das tat sie dann auch zugleich. Und nahm eine zweite Blume, für Frau Wundervoll, mit. Sie verband ihren Namen immer noch mit „Lehrerin“. Dabei sah sich Fr. Wundervoll eher wie eine Begleiterin und Unterstützerin für die Kinder.
Als sie in den lichten Teil des Waldes einbog, konnte sie die Schule schon von der Ferne erkennen. Vogelgezwitscher umfing sie und inspirierte sie selbst zu pfeifen. Das Pfeifen war, neben Mundharmonika spielen und singen, eine ihrer Lieblingstätigkeiten. Ihr Opa brachte ihr gerade Mundharmonika spielen bei.
Die Schule lag auf einem kleinen wild bewachsenen Hügel. Umgeben von Wäldern, Wiesen und einem Natursee. Dieser war zwischen 1,20 m. und 1,80 m. tief. Und die Kinder lernten, gleich ab der Klasse 1, das Schwimmen darin. Ina war Schwimmpatin und durfte, ab nächstem Schuljahr, eine Erst-klässlerin beim Schwimmen lernen, unterstützen. Dann kam sie in die vierte Klasse.
Nun war sie, ganz in der Nähe der Schule, und bewunderte diese außer-gewöhnliche Schule, in der sie sich so wohl fühlte.
Es war ein achteckiges Holzhaus und das erste seiner Art in weitem Umkreis. Dort wurden jeweils die erste und die zweite Klasse und die dritte und die vierte Klasse, gemeinsam unterrichtet. Eine Klasse umfasste nur 18 Kinder. Ina freute sich, daß die alte Art des Lernens, mit einem Lehrer vorne am Pult, hier der Vergangenheit angehörte.
Gestern hatten sie erfahren, welche Projekte in den letzten vier Wochen, vor den Sommerferien, angeboten wurden. Und Mia hatte sich für das Projekt „Irrgarten“ gestalten und umsetzen entschieden. Die Drittklässler wurden dabei von Schülern der Klasse 7 und 8 begleitet.
Singend lief sie durch das Tor in den grünen Innenbereich der Schule. Sie stieß kraftvoll die Türe auf. Während sie zu ihrem Klassenzimmer lief, wurde es ihr aufeinmal schummrig und schwindelig. Irgendwie kam ihr diese Situation bekannt vor. Der Boden unter ihren Füßen wankte und die Wände bewegten sich schlangenartig vor ihr.
Ina blieb stehen und schloß ihre Augen für einen Moment. Und Bilder von den Entwurfszeichnungen und Beschreibungen für eine neue Schuler stiegen in ihr auf. Diese hingen an einer Wand in ihrem Kinderzimmer. Sie wurde durchflutet von Bildern der alten Schule und der neuen Schule. Ihre Gedanken drehten sich. Wo war sie ? In welcher Realität ?
Als Ina ihre Augen wieder öffnete, stellte sie mit Schrecken fest, daß sie gar nicht in der neuen Schule war. Sie stand vor der Klassenzimmertüre ihrer alten Schule !
Sie stöhnte auf. Schon wieder war es ihr passiert ! Sie war so tief in ihrer Vostellung der neuen Schule eingetaucht, daß sich tatsächlich diese gewünschte neue Welt, so täuschend echt, vor ihr aufgebaut hatte. Und hinter dieser Türe erwartete sie gleich nicht Fr. Wundervoll, sondern Frau Hasselloth.
Ina klopfte leise an der Klassenzimmertüre. Und hörte ein strenges „Herein“. Sie trat ein und fühlte den wütenden Blick ihrer Lehrerin auf ihr lasten. „Ina, jetzt bist du schon wieder zu spät gekommen !“ „Es wird höchste Zeit, daß ich mit deinen Eltern ins Gespräch gehe.“ „Du lebst ja, in letzter Zeit, fast nur noch in deiner Traumwelt !“
Nach der letzten Stunde lief Ina traurig nach Hause. Sie hatte keine Lust auf Pfeifen und Singen. Denn dann passierte es besonders oft, daß sie wort-wörtlich von einer Welt in eine andere glitt.
Als sie daheim angekommen war, warf sie gleich in die Arme ihrer Mutter und erzählte ihr, was sie bekümmerte. Diese drückte sie fest und sagte mit sanfter Stimme: „Ich habe dir schon öfters von deiner Urgroßmutter Ava erzählt.“ „Als sie in deinem Alter war, begannen sich, auch bei ihr, besondere Talente zu zeigen ! „Warte noch einen Monat, bis du neun Jahre alt wirst. “ Dann darf ich dir mehr von ihr erzählen. Und übergebe dir, in ihrem Auftrag etwas, das dir zusteht. Ina runzelte nur die Stirn und sagte nichts dazu. Sie zog sich, gleich nach dem Essen, zurück in ihr Zimmer und zeichnete an ihren Entwürfen weiter. Sie freute sich, daß es nun Wochenende war.
Am Montag morgen, konzentrierte sie sich auf den Schulweg. Blieb in dieser Welt, die ihr immer weniger gefiel. Als sie in der Schule ankam, standen die Kinder noch vor der verschlossenen Klassentüre. Das war noch nie vorge-kommen und Ina wunderte sich und suchte nach ihrer Freundin Luna. Gemeinsam rätselten sie über den Grund.
Ein paar Minuten später kam der Rektor der Schule, den Gang entlang. Er schloß die Türe auf und die Klasse füllte sich schnell mit neugierigen Kindern.
Alle saßen mucksmäuschenstill an ihren Plätzen und waren gespannt auf das was der Direktor ihnen jetzt erzählen würde: „Liebe Kinder, leider muß ich euch berichten, daß eure Klassenlehrerin, Fr. Hasselloth, schwer erkrankt ist und nicht mehr kommen wird.“ Er erzählte ihnen noch mehr davon und schloß seine Worte mit: „Es ist fast ein Wunder, daß ich so schnell eine neue Lehrerin für euch gefunden habe. In ein paar Minuten werdet ihr sie kennenlernen.“
Ina war ganz vertieft in ihre Gedanken und nahm nicht wahr, wie die Türe aufging und jemand herein kam. Erst als sie das Wort „Wundervoll“ hörte, erhob sie den Kopf und blickte nach vorne. Und traute ihren Augen kaum ! Vor ihr stand ihre Frau Wundervoll, die sie aus ihrer neuen Welt kannte.
Fr. Wundervoll, schaute für einen kurzen Moment in ihre Richtung und lächelte und zwinkerte ihr zu ! Der Rektor verließ den Klassenraum und ihre neue Lehrerin erzählte den Kindern von sich und ihren Vorstellungen von Lernen und Unterrichten. Diese hatte nicht viel gemeinsam mit den Methoden Fr. Hasselloths.
Und als sie von ihrer Idee von Projektwochen, zum Abschluß des Schul-jahres, vor den Sommerferien sprach, war Ina sich absolut sicher, das war „ihre“ Frau Wundervoll !
© Elli (Elke Strohmaier)
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Bildquelle: Christine Schmidt auf Pixabay

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