Die Schulglocke läutete. Die Kinder strömten auf den kleinen Schulhof. Waren sich gegenseitig im Weg, stolperten, schubsten sich, lachten und alberten rum. Die innere Anspannung vom langen Sitzen suchte sich seinen Weg nach außen, um sich kreativ zu entladen. Kurze Zeit später hatte jeder einen Teil des Schulhofs in Besitz genommen. Es wurde ein wenig ruhiger und das Spielen begann.
Erst dann kam er heraus. Mit dunklen Haaren, bereits von der Sonne gebräunt. Von schlanker und sehniger Natur. Betrat den Schulhof und schaute sich um. Finn. Dem hier alles viel zu laut, zu voll und zu unruhig war. Der sich dem Treiben nicht anschließen wollte bzw. gar nicht dazu in der Lage war. Der Abstand zu den anderen Kindern hielt. Nicht angesprochen werden wollte. Nicht berührt werden wollte. Niemand in die Augen schauen wollte.
Er suchte mit den Augen einen geschickten Weg durch die Kindermenge. Und begab sich schnell zu dem Schulhofgarten, der seitlich, auf der anderen Seite des Schulgebäudes, lag. Der Hausmeister wartete schon auf ihn. Lächelte ihn an und schloß das Gartentor auf. Und ließ ihn hinein. Er hatte sich dafür eingesetzt, daß Finn hier ungestört seine Pause verbringen konnte.
Finn war ein Integrationskind. Die Kontaktversuche der Integrations-fachkraft, die ihn bei der Eingliederung in die Gemeinschaft unterstützen sollte, hatten keinen Erfolg. Er ignorierte sie einfach, wendete sich von ihr ab. Doch auf den Hausmeister war Finn, von sich aus, zugegangen. Er erinnerte ihn an seinen Großvater, der nicht mehr lebte.
Finn ging suchend durch den Garten und war auf Ausschau nach den Schnecken. Seinen Schnecken. Große Schnecken, kleine Schnecken und tote Schnecken. Weinbergschnecken, Gartenwegschnecken und Garten-bänderschnecken. Sie waren geborgen in ihrem Häuschen, das sie mit sich herumtrugen. Er beneidete sie darum.
Er jedoch trug einen unsichtbaren Panzer wie eine Festung vor sich her, uneinnehmbar. Ein Panzer, der ihn begleitete, seit sein Bruder gegangen war, sich von ihm verabschiedet hatte. Im Bauch der Mutter. Bereits zwei Monate, nachdem sie eingezogen waren. In das Ei. Seitdem wohnte ein unfassbarer Schmerz in seiner Brust. Ein Verlust. Er war unvollständig und fühlte sich nur halb.
Finn war so vertieft in seine Gedanken, daß er es nicht bemerkte, als die Gartentüre zum zweiten Mal aufging. Plötzlich nahm er die Stimme des Hausmeisters wahr, er richtete sich auf, erstarrte. Ein Junge, in seinem Alter, helle Haare, mit schlanker Statur, durchschritt zögerlich die Türe. Er sah nicht auf, sein Blick blieb am Boden hängen. Geduldig blieb der Hausmeister neben ihm stehen. Und redete leise mit ihm. Linn hieß er.
Im Garten flatterte ein Schmetterling umher und setzte sich auf Linns Kopf. Dieser zauberte Linn ein Lächeln ins Gesicht. Er näherte langsam seine Hand Richtung Kopf. Ohne zu zögern nahm der Schmetterling die Einladung an und flog auf seine Hand. Bewegte seine schwarz-weiß gemusterten Flügel auf und ab.
Ein Hauch von Neugierde zog in Finn ein. Langsam erhob er seinen Kopf und beobachtete den anderen Jungen.
Er fragte sich, hatte der Junge auch seinen Bruder verloren ?
© Elli (Elke Strohmaier)
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Fotoquelle: bilder.4ever.eu
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