Viele kennen William Goldings düsteren Roman „Herr der Fliegen“. Ein Flugzeugabsturz, eine einsame Insel und Schuljungen, die versuchen, ohne Erwachsene zu überleben. In der Handlung dreht sich alles um die schlechten Seiten unserer menschlichen Natur, das, was eben angeblich hervorkommt, wenn die Umgebung der zivilisierten Gesellschaft schwindet.
Doch als tatsächlich sechs Jungen 1965 im Südpazifik aus einem streng katholischen Internat flohen, ein Fischerboot kaperten (mit nur zwei Beuteln Bananen, ein paar Kokosnüssen und einem kleinen Gasbrenner im Gepäck) und zu allem Überfluss in einen Sturm gerieten, acht Tage ziellos auf dem Meer herumtrieben und sich auf eine verlassene Insel retten konnten, kam alles ganz anders.
Die Insel Ata, kein tropisches Paradies mit weißen Stränden und Palmen, sondern ein riesiger steiler Felsen, der 350 Meter aus dem Meer ragt, ohne Süßwasser und als unbewohnbar galt, wurde ihr neues Zuhause. In der regenarmen Zeit, in der es kaum möglich war an Trinkwasser zu kommen, litten sie unter rasendem Durst, den sie mit dem Blut von Seevögeln stillten, die sie sich zum Essen fingen.
Auch Fische, Kokosnüsse oder rohe Vogeleier standen auf ihrem Speiseplan. In einem alten Vulkankrater fanden sie schließlich Bananen und eine Gruppe verwilderter Hühner, die sich weiter fortpflanzten, seit die Einheimischen 1863 von einem Sklavenschiff verschleppt wurden.
Die Jungen bauten sich eine kleine Siedlung mit Gemüsegarten, ausgehöhlten Baumstämmen zur Speicherung von Regenwasser, Hühnerställen, eine provisorische Gitarre, einen Badmintonplatz, eine Turnhalle mit eigentümlichen Gewichten und das alles in Handarbeit und mithilfe einer alten Messerklinge. Und als sie es endlich zustande brachten, ein Feuer zu entfachen, ließen sie es über ein Jahr lang nicht mehr ausgehen.
Selbst als einer ihrer Mitstreiter von einer Klippe stürzte und sich ein Bein brach, schafften es die anderen fünf Jungen mit unglaublichem Einfallsreichtum ihren Freund wieder hinaufzutransportieren und seinen Bruch mit einer Schiene aus Blättern und Stöcken zu versorgen.
15 Monate überlebten sie dort, bis zufällig ein australisches Fischerboot vorbeikam, das auf der Suche nach neuen Flusskrebsgründen war. Sechs nackte Jungen, die schrien und direkt auf ihr Boot zuschwammen. Jungen, die bereits offiziell für tot erklärt und für die Trauergottesdienste abgehalten worden waren.
Das ist der echte „Herr der Fliegen“. Kein Horror-Streifen über Hass, Streitereien, Folter und Mord. Sondern eine berührende Geschichte über Loyalität, Freundschaft und Kooperation und einer daraus resultierenden bemerkenswerten Widerstandsfähigkeit und Ausdauer. Eine Geschichte, aus der Romane und Blockbuster entstehen könnten. Aber stattdessen kennt sie fast niemand. Sie klingt zu unwirklich oder optimistisch und scheint nicht dafür geeignet zu sein, die Massen zu begeistern. Doch eigentlich brauchen wir genau das – andere, ermutigende Geschichten, die uns ein Licht sein können in einem Meer aus Negativität und Brutalität, das uns von Medien als die vorherrschende Realität und als innerer Kern der Menschen verkauft wird.
In diesem Sinne – lasst uns in dem Bewusstsein leben, dass der Mensch im Grunde gut ist. Und dass wir in der Lage sind, gemeinsam schier Unfassbares zu bewältigen. Lasst uns vernetzen und anfangen, kleine, stetig wachsende Inseln einer guten, hilfsbereiten und heilsamen Welt zu erschaffen.
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Quelle: telegram @VerschuetteteHeilkunst
Fotoquelle: S. Fischer Verlage, e-books
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