Neurogenes Zittern: Ein Geschenk der Natur – Satya Marchand -2-

Auszüge aus dem Buch „Wege in die Freiheit. Wie unerkanntes Trauma uns gefangen hält und wie wir es auflösen“, von Satya Marchand“

Einleitung

Das neurogene Zittern ist keine Technik und auch keine Methode, sondern ein Selbstheilungsreflex des autonomen Nervensystems. Alle Säugetiere haben diesen Reflex, und so auch der Mensch, der aufgrund seiner biologischen Struktur ebenfalls ein Säuger ist.

Daß du den Selbstheilungsreflex des Zitterns in der Traumaheilung nutzen kannst, kannst du dann nachvollziehen, wenn du verstehst, daß Trauma nichts Psychisches, sondern ein Körperzustand ist. Dennoch wird Menschen, die Traumafolgen tragen, eine Psychotherapie verschrieben und Psychopharmaka verordnet.

Das neurogene Zittern birgt keine Risiken, denn es wirkt als Selbst-heilungskraft, die immer in eine Verbesserung des Befindens führt. Sie lässt sich von jedem Menschen, in jedem Alter und in jeder körperlichen Verfassung regulierend und heilend einsetzen.

Auch Menschen, die bettlägerig sind, können mit dem neurogenen Zittern arbeiten. Ebenso, wie es dir ganz selbstverständlich ist, daß eine Schnittwunde ohne dein Zutun heilt, sofern du sie nicht störst, kannst du darauf vertrauen, daß auch das neurogene Zittern heilend wirkt.

Der Selbstheilungsreflex des neurogenen Zitterns ist für das Herausheilen aus Traumafolgen perfekt geeignet. Der Körper setzt diesen Reflex automatisch immer dann frei, wenn eine gefährliche oder lebensbedrohliche Situation überstanden wurde. Der Sinn dieses Zitterns besteht darin, einen erlebten Schock so schnell wie möglich wieder aus dem System zu entfernen, um es nicht damit zu belasten.

Vielleicht hast du schon einmal in einem Tierfilm gesehen, wie ein Löwe versucht, eine Gazelle zu reißen. Manchmal ist die Gazelle schneller, und es gelingt ihr, dem Löwen zu entkommen. Sobald sie in Sicherheit ist, fängt sie an zu zittern. Das Zittern dient dazu, den Stress des Hetzerlebens aus ihrem Körper zu entlassen. Hätte sie nicht gezittert, könnte sie ihre Leben nicht mehr bewältigen.

Sie könnte aus Angst vor dem Löwen nicht mehr ihren Kopf zum Trinken senken, würde nicht zum Fressen stehen bleiben können und fände keinen Schlaf mehr, weils sie der Überzeugung wäre, daß der Löwe sie immer noch bedroht. Sie würde nach wenigen Tagen sterben, obwohl der Löwe gar nicht mehr da ist. Durch das neurogene Zittern aber kann ihr Körper sich von der Todesangst befreien, und die Gazelle kann ihr Leben so weiterführen wie vor der Hetzjagd.

Auch wir Menschen zittern automatisch, nachdem etwas Gefährliches gut ausgegangen ist. Ein Beispiel dafür sind frisch operierte Patienten. Sie beginnen heftig und am ganzen Leib zu zittern, sobald sie nach der Operation im Aufwachraum wieder zu sich kommen.

Da das medizinische Fachpersonal meist leider nichts von diesem heilenden Reflex weiß, injizieren sie üblicherweise ein Beruhigungs-mittel, damit das Zittern aufhört. Das soll dem Wohl des Patienten dienen, aber das Gegenteil ist der Fall: Der Körper muß den Schock, den er während der Narkose und der Operation erlitt, halten.

Bei manchen Menschen tritt das Zittern auch in kontroversen Diskussionen, anstrengenden Meetings oder Auseinandersetzungen mit ihren Liebsten auf. Auch hier lässt sich das Bemühen des Körpers erkennen, den Stress, der durch diese Ereignisse entsteht, möglichst schnell abzubauen.

Da die meisten Menschen diesen Selbstheilungsreflex nicht kennen, macht er ihnen meist Angst. Sie fürchten, zu all ihren Beschwerden nun auch noch Parkinson auszubilden oder Epileptiker zu werden.

Umso wichtiger finde ich es, daß das Wissen um die Funktionskreisläufe des autonomen Nervensystems möglichst viele Menschen erreicht. Denn alles, was wir verstehen, kann sich zu einem Sinn formen, und wenn wir Sinnzusammenhänge herstellen können, wirkt sich das positiv auf unser Empfinden von Kontrolle und Sicherheit aus.

Was wir nicht verstehen, kann uns Angst machen, weil wir es weder einordnen noch kontrollieren können. In solchen Situationen fühlen wir uns nicht sicher. Und da Sicherheit die Voraussetzung für das Überleben ist, bringt fehlende Sicherheit unser Nervensystem in den Überlebens-modus.

Verschiedene Arten des Zitterns

Zittern muß nicht bedeuten, daß es zu regelmäßigen Muskelkontrak-tionen kommt wie etwa beim Kältezittern, sondern das Zittern kann in seiner Intensität stark variieren. So gibt es ein äußerlich kaum sichtbares Zittern, das sich wie ein feines inneres Kribbeln anfühlt und ein Zittern mit heftigeren Ausschlägen, wobei durchaus auch mal ein Arm oder Bein in die Höhe schnellen kann.

Dieses Phänomen tritt auch manchmal kurz vor dem Einschlafen auf. Wenn man gerade gemütlich am Einschlummern ist, geht plötzlich ein heftiger Ruck durch den ganzen Körper. Das ist ein Versuch des Körpers, gehaltene Energie loszuwerden

Wie sehr der Körper heilen und sich vom Stress befreien will, lässt sich auch am nächtlichen Zähneknirschen beobachten. Diese sich Nacht für Nacht wiederholende Aktivität des Anspannens und Verschiebens der Kiefer hat nichts mit Aggression oder Selbstverletzung zu tun, sondern ist ebenfalls ein Versuch des Körpers, die gehaltene Trauma-Energie abgeben zu können.

Alter Stress und neuer Stress

Der neuronale Stress, in dem das autonome Nervensystem durch frühe Traumatisierungen feststeckt, ist alt. Er belastet dein Nervensystem seit vielen Jahren. Aber sehr wahrscheinlich bist du auch neuem Stress ausgesetzt. Zum Beispiel wenn du in einem ungünstigen Umfeld lebst, unangenehme Post bekommst, in einen Streit gerätst oder eine schlechte Nachricht erhältst.

Das neurogene Zittern entlädt sowohl neuen und aktuellen Stress aus dem Körper, kann aber auch den Stress abbauen, der über Jahre oder Jahrzehnte durch Bindungs- und Entwicklungstraumatisierungen im Körper gespeichert ist.

Das Zittern funktioniert hierarchisch, das heißt, zuerst wird der neue und aktuelle Stress abgegeben, und erst dann können die „Altlasten“ dein System verlassen.

Um den alten Stress abzubauen, muß das Zittern provoziert werden, denn weil diese Erlebnisse lange zurückliegen, bietet der Körper es nicht mehr von selbst an.

Das Zittern ist wie deine Verdauung eine autonome Funktion. Es ist nicht möglich, autonome Funktionskreise willentlich zu beieinflußen. Das bedeutet du brauchst einen Auslösereiz, um die gewünschte Wirkung herbeizuführen. Dieser Auslösereiz ist ein Überlastungszittern.

Dazu bringst du deinen Körper in eine Position, in der ein Über-lastungszittern auftritt. Vielleicht hast du mal Gewichtheber beobachtet: Ihre Arme zittern wegen des gewaltigen Gewichts, das sie stemmen. Diese Art von Zittern ist ein Überlastungszittern. Überlastungszittern kann die Brücke zum neurogenen Zittern bilden.

Wann beginnt das Zittern zu wirken ?

Das neurogene Zittern wirkt vom ersten Moment an. Mit jedem Zittern, sei es auch noch so kurz oder schwach, verlassen stressbesetzte Verschaltungen deinen Körper. Allerdings wirst du einsetzende Veränderungen nicht sofort bemerken. Die meisten meiner Klienten berichten, daß sie erst nach ungefähr acht bis zwölf Wochen deutliche Veränderungen und Besserungen wahrnehmen können.

(Die aktuelle Anspannung/Alltagsstress, kann aber sofort über das Zittern abgegeben werden.)

Das hängt damit zusammen, daß sich im Laufe deiner Prägezeit Millionen von Verschaltungen gebildet haben.

Wie oft soll ich zittern ?

Als grundsätzliche Regel möchte ich dir das Zittern zweimal täglich für jeweils maximal zehn Minuten empfehlen. Stell dir gern einen Timer, damit du nicht ständig auf die Uhr schauen mußt.

Der Hintergrund ist, daß es nicht ratsam ist zu viel auf einmal heraus-zuzittern, weil es dich überfordern könnte. Die herausgezitterten Verschaltungen „fehlen“ physisch in deinem Nervensystem. Und deshalb braucht es nun etwas Zeit, um eine neue Stabilität und Balance zu finden zu können.

Menschen machen mit dem Zittern sehr unterschiedliche Erfahrungen. Die einen zittern nur einmal am Tage. Andere acht- oder neunmal. Bitte finde einen Rhythmus, der zu dir passt. Und passe die Häufigkeit de sZitterns auch deinen unterschiedlichen Tagesverfassungen an.

Körperliche Auswirkungen des Zitterns

Durch regelmäßiges Zittern reguliert sich dein Nervensystem nach und nach aus dem Überlebensmodus herunter. Mit jedem Zittern können stressbesetzte Verschaltungen dein System verlassen. Dein Körper wird sich durch das neurogene Zittern allmählich heilsam verändern, weil der permanente Hormoncocktail aus Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol, der den Überlebensmodus speist, mit der Zeit abnimmt.

Dadurch verringert sich unter anderem die permanente Adrenalin-flutung deines Systems, was entspannend und entzündungshemmend wirkt. Denn Adrenalin, das nicht durch physische Flucht- oder Kampfhandlungen abgebaut werden kann, speist einen chronischen Entzündungskreislauf, der zu offenen oder stillen Entzündungen führt, zum Beispiel bei Neuropathie, Fibromyalgie und Rheuma.

Wen dein Körper nicht mehr alle Energie für das Aufrechterhalten des Überlebensmodus verwenden muß, hat er wieder Kraft für die dringend notwendige Organversorgung, endokrinologische und andere Funktionskreisläufe, für Verdauung, Entgiftung und intrazelluläre Prozesse …

Meine persönliche Erfahrungen mit dem Zittern

Angefangen habe ich mit dem Zittern im Liegen. Dann das Zittern im Stehen, angelehnt an eine Türe oder frei stehend, ausprobiert. Damit erreicht man ganz andere Körperbereiche aus denen belastete Spannungen herausgeschüttelt werden.

Wenn du regelmäßig Sport machst und gut durchtrainiert bist, kann es länger dauern bis die Belastungssituation eintritt und du zu zittern anfängst.

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Link zum Video für die Körperübung des neurogenen Zitterns:

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Link zur TRE-Gesellschaft:

http://www.tre-deutschland.de

Quelle: „Wege in die Freiheit. Wie unerkanntes Trauma uns gefangen hält und wie wir es auflösen“, von Satya Marchand

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Fotoquelle: geralt auf pixabay

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2 Antworten zu „Neurogenes Zittern: Ein Geschenk der Natur – Satya Marchand -2-”.

  1. Ein spannendes, gleichsam sehr entspannendes Thema hast du, liebe Elli, hier angesprochen!

    Ich habe es gleich selbst einmal ausprobiert. So wohltuend und heilsam die erlebte Erfahrung…

    DANKE fürs Finden und Teilen… 🙏

    Herzlich(t)e Grüße
    Elke an Elke 😊

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    1. Liebe Elke, das freut mich sehr, daß du es ausprobiert hast und die Wirkung, der freigelassenen Spannungen, positiv spürst.

      Eine Bekannte hat mir davon erzählt und ich habe es „einfach“ weitergereicht :-), da ich das Potential dahinter und die Notwendigkeit in dieser Gesellschaft, erkannt und gefühlt habe.

      Diese Methode wird auch bei Menschen, die geflüchtet sind, in Kriegsgebieten leben, Naturkatastrophen überlebten, … angewandt. Erfolgreich !

      Herzlich grüßt dich,
      Elli

      Liebe Elke, das freut mich sehr, daß du es ausprobiert hast und die Wirkung, der freigelassenen Spannungen, positiv spürst.

      Eine Bekannte hat mir davon erzählt und ich habe es „einfach“ weitergereicht :-), Es birgt so ein großes Potential und kann die gesammelten Spannungen und Traumaerfahrungen, am Ort der Entstehung, auflösen. Wir alle brauchen so ein Mittel.

      Das neurogene Zittern wird auch bei Menschen, die geflüchtet sind, in Kriegsgebieten leben, Naturkatastrophen überlebten, … angewandt. Erfolgreich !

      Herzlich grüßt dich,
      Elli

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